Keine Kunst für jedermann:
Die Kunst der Runen ist in Belgaria und den umgebenen Regionen schon seit Jahrhunderten bekannt. Doch nicht in allen Gegenden oder Teilen der Gesellschaft wird dem mühsamen Erlernen des Lesens und Schreibens die gleiche Bedeutung beigemessen. Besonders auf dem Land gibt es vielfach Vorbehalte gegen die sogenannte „Tintenkleckserei“.
Anders als in der Welt meiner Leser gibt es hier kaum Bücher und auch sonst nur wenig zu lesen. Nachrichten werden vor allem mündlich weitergegeben und Verträge in traditioneller Art mit Handschlag und Zeugen abgemacht. Wer auf dem Lande flüssig lesen kann, gilt als Bildungssnob. Wer sich sogar für die Runen soweit begeistert, dass er selbst Briefe oder Tagebücher schreibt, wird schnell als verschroben betrachtet. Klare und rasch begreifbare Vorteile dieser Kunst erkennt man auf dem Lande zumeist nicht. Solange man nur einen dieser sonderbaren Käuze kennt, die sich der exotischen Runenkunst widmen, ist es den meisten genug.
Ich weiß noch, wie es in meiner Kindheit war. Wenn doch einmal ein Schriftstück eingetrudelt war, bat man einen solchen Gelehrten, den Brief oder das Dokument vorzulesen und gegebenenfalls eine Antwort niederzuschreiben.
Es kam ja ohnehin nur alle paar Jahre einmal vor, wenn überhaupt.
In der Stadt, das merkte ich schnell, ist die Situation anders. Hier prangen Ladenschilder, Angebotstafeln, Plakate, es gibt offizielle Anschläge oder an Bretterwände gepinnte Anzeigen. In der wuseligen Betriebsamkeit von Garbath stolpert man allenthalben über Geschriebenes. Im Alltag ist es deshalb für einen Stadtbewohner von Vorteil, zumindest ein wenig lesen zu können. Es muss ja nicht flüssig sein, ein mühsames Buchstabieren reicht oft schon aus denn die meisten Texte sind sehr kurz und von recht gradliniger Rechtschreibung.
Einige typische Beispiele:
suche hülfe für schrainarai
HOIDE FAINER KOOL
Hir ruut seelich meine Libes Weip Nasilis
Gegen geringes Entgelt lehren die meisten Tempel Kindern die Anfangsgründe der Runenkunst. So kommt es, dass fast alle Kinder in Garbath die Schule besuchen. Zumindest für ein paar kurze Monate. Das Rechnen allerdings lernen sie auf der Straße, beim Murmelspiel oder spätestens, wenn sie beim Einkaufen feilschen müssen.
Die gute Gesellschaft kann meist besser lesen und vor allem auch schreiben. Mag eine Hausmagd und vielleicht noch ein einfacher Handwerker mit rudimentären Runenkenntnissen seinen Alltag bewältigen, so muss ein kleiner Kaufmann schon ordentlich schreiben können, um seine Kontobücher führen und seine Bestellungen erledigen zu können.
Je höher der gesellschaftliche Status ist, um so besser ist es meist um die Bildung bestellt. Für wirklich reich wird die Familie gehalten, die ihre Kinder von einem privaten Lehrer erziehen lässt. In den Häusern der Reichen findet sich oft auch ein meist frommes Buch, das zur Erbauung gelesen wird und den Nachbarn neidisch machen soll. Da alle Bücher alle mit der Hand geschrieben werden, sind sie sehr teuer und selten. Das Archiv von Garbath rühmt sich einer stattlichen Bibliothek mit mehreren Hundert Büchern.
Unter den Damen gilt als besonders fein, sich Briefe zu schreiben. Oft werden diese gesammelt und zu einem sogenannten Billettbändchen, einem kleinen Buch zusammengebunden.
Die gewerblichen Schreiber verstehen sich besonders auf das Aufsetzen von Vertrags- oder Rechtstexten. In den zwei Generationen, in denen sie inzwischen wirken, haben sie die einst klaren und verständlichen Verträge in so unverständliche Runenmonster verwandelt, dass man nun bei Rechtsfragen auf ihre teuer zu bezahlende Fachkenntnis angewiesen ist. Nur Erb- und Nachlassangelegenheiten gehören nicht zu ihren Aufgaben. Diese Dinge erledigen, zum Missvergnügen der Schreiber, die Priester.